Die Flammenbibliothek

Im Dezember werden die Tage kurz. Die Nächte sind nichts zum Fürchten. Sie sind nur länger. Und in einer dieser Nächte gibt es eine Tür, die man am Tag nie sieht: kein Schild, keine Klingel. Nur Holz, das ein wenig nach Rauch riecht. Wer sie zur richtigen Stunde öffnet, steht in der Flammenbibliothek. Es ist eine Bibliothek, aber nicht für Bücher.
In den Regalen stehen dicke Gläser, wie Einmachgläser. In jedem Glas brennt ein winziges Licht, nicht größer als ein Fingernagel. Und doch hell genug, dass man die Aufkleber lesen kann: Mut. Trost. Teilen. Geduld. Lachen. Ein Wort pro Glas. Und jedes Wort fühlt sich an, als könnte es warm machen. Manche Lichter flackern, als wären sie aufgeregt. Andere brennen ganz still.
Die Hüterin heißt Frau Winda. Sie trägt eine Schürze mit Wachsflecken und einen Stift hinterm Ohr. Ihre Hände riechen nach Zimt, weil irgendwo immer Tee warm steht.Wenn sie spricht, wird man automatisch leiser. „Lio“, sagt sie. Lio ist der jüngste Lichthelfer. Seine Mütze sitzt schief. Er richtet sie, dann lässt er sie wieder los. Jetzt muss er zuhören.
Frau Winda stellt eine Kerze auf den Tisch. Groß, glatt, ohne Glitzer. Die Flamme ist klein und ruhig.
„Das ist das Erstlicht“, sagt sie. „Es brennt, ohne zu fordern. Und es wird nicht weniger, wenn man es teilt.“ „Wohin?“, fragt Lio. Frau Winda klappt eine alte Karte auf und tippt auf einen blassen Fleck. „Nach Grauhausen.“ „Was ist dort passiert?“ „Nicht viel“, sagt Frau Winda. „Und genau das ist das Problem. Die Menschen dort sagen nur noch: ‚Später.‘ ‚Keine Zeit.‘ ‚Macht nichts.‘ Wenn man das oft genug sagt, wird es innen drin dunkel, ohne dass man es merkt.“ Lio denkt kurz an bunte Geschenke und laute Feste. Dann schüttelt er den Kopf. „Was soll ich tun?“ „Stell das Erstlicht so hin, dass jemand es selbst findet“, sagt Frau Winda. „Kein Überreden. Licht muss eingeladen werden.“ Lio nimmt die Kerze vorsichtig in beide Arme. In seiner Tasche klirren leere kleine Gläser. Für Funken, die man mit zurückbringen kann. Dann geht er los.Grauhausen wirkt, als hätte jemand die Farben leiser gedreht. Grauer Himmel, dunkle Fenster, schnelle Schritte. Die Häuser sind ordentlich, aber verschlossen. Vorhänge zu. Türen zu. Kein Lachen auf der Straße. Es riecht nach kalter Luft und nasser Straße. Und überall hört Lio Sätze, die viel zu kurz sind:„Später.“„Nicht jetzt.“„Keine Zeit.“Sie fallen wie kleine Steine: klack, klack, klack. Er könnte die Kerze mitten auf den Marktplatz stellen. Aber er sucht einen Ort, an dem jemand wirklich hinschaut.
Also geht er in eine schmale Gasse hinter dem Rathaus. Dort stehen zwei Kinder vor einer Haustür. Das größere hält ein Blech Kekse. Selbst gebacken, nicht perfekt. Das kleinere hält eine Laterne, die kalt leuchtet. „Ich klingel nicht“, sagt das kleinere. „Wir müssen“, sagt das größere. „Mama hat gesagt, Frau Schenk ist allein.“ „Alle sagen das“, murmelt das kleinere. „Und am Ende geht doch keiner hin.“ Das größere Kind zögert. „Sie ist immer so… komisch.“
Lio stellt das Erstlicht auf den Treppenabsatz. Nicht mitten hin, eher an den Rand. So, als hätte es dort schon auf jemanden gewartet. Dann tritt er zurück. Die Kinder sehen die Flamme. Für einen Moment sagen sie nichts. „Wo kommt die her?“, flüstert das kleinere. Das größere will „egal“ sagen. Aber es klappt nicht. „Vielleicht“, sagt es stattdessen, „freut sie sich.“ „Dann singen wir“, sagt das kleinere. „Nur kurz.“ Das größere atmet aus und klingelt.Drinnen ist erst Stille. Dann Schritte. Eine Kette. Die Tür geht einen Spalt auf. Frau Schenk steht da. Müde, vorsichtig, als würde gleich jemand wieder weggehen. Dann sieht sie die Kerze. Ihr Gesicht wird weicher. „Ach. Ihr seid’s.“ „Wir haben Kekse“, sagt das größere Kind und hebt das Blech hoch. Das kleinere fängt an zu singen. Erst schief, dann singt das größere mit. Nach zwei Zeilen ist es einfach nur ein Lied. Kein großes Konzert. Nur ein kleines „Hallo“ in der Dunkelheit. Frau Schenk öffnet die Tür weiter. Warme Luft kommt ihnen entgegen. „Kommt rein“, sagt sie. Im Flur riecht es nach Tee. Und irgendwo klappert eine Tasse, als hätte das Haus schon lange darauf gewartet, wieder benutzt zu werden.Gegenüber bewegt sich eine Gardine. Kurz darauf brennt in diesem Fenster eine kleine Kerze auf. Wie eine Antwort. Und ein paar Häuser weiter geht noch ein Licht an. Ganz leise. Aber da.Am Ortsrand bleibt Lio stehen. Grauhausen ist noch grau. Nicht jedes Fenster leuchtet. Aber in manchen Fenstern brennen jetzt Flammen. Kleine, echte. Man sieht: Drinnen erinnert sich jemand an Wärme.Lio hält das Erstlicht fest. „Danke“, flüstert er. Ein winziger Funke löst sich aus der Flamme und schwebt, als würde er kurz überlegen. Lio hält ein leeres Glas hin. Der Funke sinkt hinein und leuchtet still weiter, wie ein Punkt, der nicht verschwinden will. Lio schraubt den Deckel zu und schreibt auf den Aufkleber: „Erinnerung“.In der Flammenbibliothek nimmt Frau Winda das Glas, hält es kurz gegen das Licht und nickt. Dann stellt sie es ins Regal, zwischen Trost und Teilen. „Und?“, fragt sie. „In Grauhausen brennen wieder Fensterlichter“, sagt Lio. Frau Winda lächelt kaum, aber man merkt: Sie freut sich. „Gut“, sagt sie. „Manchmal beginnt alles mit einem kleinen ‚Ich bin da‘.“ Dann zeigt sie auf ein leeres Fach im Regal. Der Aufkleber ist noch leer. „Und manchmal“, sagt sie, „braucht man kein großes Licht. Nur ein kleines.“Sie gibt Lio drei winzige Gläser. In jedem glimmt ein Lichtpunkt, wie ein sehr kleines Sternchen. „Die sind für unterwegs“, erklärt Frau Winda. „Für kleine Momente: wenn jemand traurig ist. Wenn zwei sich streiten. Wenn jemand sich nicht traut, freundlich zu sein.“ Sie tippt auf Lios Tasche. „Du stellst so ein Glas hin – und gehst wieder. Wie heute. Die anderen dürfen es selbst entdecken.“ Lio steckt die drei Gläser ein. Sie klirren nicht. Es klingt eher, als würde man eine Idee vorsichtig einpacken.Draußen fällt Schnee, ganz leise, als würde er auf Zehenspitzen kommen. Und irgendwo in Grauhausen brennt eine Kerze weiter. Nicht, weil plötzlich alles gut ist. Sondern weil jemand den Anfang gemacht hat.